Einordnung: Die Western-Electric-Regeln gehören seit den 1950er-Jahren zum Standardrepertoire im Bereich Statistical Process Control (SPC). Doch wie relevant sind sie heute noch in modernen Produktions- und Datenumgebungen?


Ursprung und Idee

Die Regeln wurden erstmals 1956 im Western Electric Statistical Quality Control Handbook beschrieben. Sie erweitern die klassische Shewhart-Regelkarte, die nur ein Alarmsignal gibt, wenn ein Messpunkt außerhalb von ±3σ vom Mittelwert liegt. Das Problem: Kleine, aber systematische Drifts im Prozess bleiben so lange unentdeckt.

Die Western-Electric-Regeln reagieren früher, indem sie auch Muster innerhalb der 3σ-Grenzen als Signal werten:

  • Regel 1: Ein Punkt außerhalb ±3σ → klare Sonderursache.

  • Regel 2: Zwei von drei aufeinanderfolgenden Punkten außerhalb ±2σ (gleiche Seite).

  • Regel 3: Vier von fünf aufeinanderfolgenden Punkten außerhalb ±1σ (gleiche Seite).

  • Regel 4: Acht oder mehr Punkte in Folge auf derselben Seite der Mittellinie.

Damit lassen sich nicht nur Ausreißer, sondern auch Drifts und Verschiebungen im Prozesszentrum erkennen.


Einsatz in der Industrie

Die Regeln sind bis heute in vielen Branchen verbreitet:

  • Automotive & Luftfahrt: Häufig in IATF 16949 bzw. AS 9100 Prozessen verankert.

  • Pharma & Medizintechnik: SPC-Software implementiert die Regeln standardmäßig.

  • Six Sigma & Lean: Bestandteil des klassischen Werkzeugkastens.

Viele gängige SPC-Softwarelösungen (z. B. Minitab, JMP, qs-STAT) haben die Western-Electric-Regeln fix integriert.


Grenzen und Kritik

  • Fehlalarme: Gerade bei hochfrequenten Daten mit Autokorrelation schlagen die Regeln oft „zu oft“ an.

  • Komplexität: Vier Regeln sind für Bediener an der Linie nicht immer intuitiv.

  • Alternativen: Moderne Verfahren wie CUSUM (Cumulative Sum) oder EWMA (Exponentially Weighted Moving Average) erkennen Drifts präziser und lassen sich statistisch besser auf Fehlalarmraten kalibrieren.


Moderne Perspektive

  • Für das operative Shopfloor-Monitoring: Western-Electric-Regeln sind weiterhin sinnvoll, da sie einfach zu verstehen sind und in bestehender Software integriert vorliegen.

  • Für strategische Prozessbewertung: Heute werden oft GLMs, Zeitreihenmodelle oder Reliability-Analysen eingesetzt.

  • Data Science & Feldanalytik: Hier haben Methoden wie Anomaly Detection oder Survival-Modelle längst mehr Bedeutung.


Fazit

Die Western-Electric-Regeln sind ein Stück gelebte Qualitätsgeschichte – und in vielen Produktionsumgebungen nach wie vor nützlich. Sie bieten eine einfache Möglichkeit, Drifts und Verschiebungen frühzeitig zu erkennen.

Aber: Für datenintensive Anwendungen und komplexe Felddaten sind moderne Verfahren (CUSUM, EWMA, statistische Modelle) meist die bessere Wahl.

Pragmatischer Ansatz: Im Alltag an der Linie weiterhin mit Western-Electric arbeiten – in der datengetriebenen Analyse aber ergänzen oder ablösen durch moderne Methoden.

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